Alice

 

 

 

»Lasst die Show beginnen und Applaus für die süße, aber auch sehr schmutzige ‘Lady Diamond’.« Ein Raunen geht durch die Menge der aufgeheizten Männer, die schon mit zuckenden Scheinen in den Startlöchern lauern, sehnsüchtig wartend auf ihre tägliche Dosis Vergnügen. Es wird dunkel, kurz Stille, Rotlicht spiegelt den Boden im Rampenlicht, düstere Melodien von PJ Harvey dröhnen über die Boxen, eine melancholische Stimmung füllt den verrauchten Raum, dann betritt sie die Bühne.

Wie ein Diamant, der unter Druck entsteht, so hat es auch Lady Diamond in die »Bar Rouge« nach LA verschlagen. Sie wusste, dass sie mit dem Office Job ihre Mutter, die allein in New Orleans lebt, nicht unterstützen konnte, also beschloss sie zu strippen, sie beschloss, mit ihrem Körper Geld zu verdienen. Schließlich hatte sie jahrelang mit geschundenen Zehen, überdehnten Gelenken, blutenden Fersen als Primaballerina versucht ihre Mutter mit Stolz zu erfüllen, die sich nichts Sehnlicheres für ihre Tochter wünschte, als sie irgendwann einmal als begnadete Tänzerin auf den Bühnen der Welt zu sehen. Warum sollte sie heute also nicht etwas zurückgeben, als Stripperin, die sich zwar bedeckt hält, aber mit Leichtigkeit auf diese Art mehr Geld verdient. Schnell hat sie mit ihrer magischen Ausstrahlung zahlreiche Männer angelockt und eine kleine Fangemeinde aufgebaut. Sie kündigte ihren Office Job und gibt seitdem täglich Privatshows zusätzlich zu den öffentlichen Auftritten am Abend. Es gibt Flyer, Plakate mit ihrem Gesicht und der phänomenalen Glitzerschrift in 3D, Lady Diamond ist der Star der Bar Rouge, daran bestand nie ein Zweifel.

 

Lee, ein Stammgast hat sie heute nach ihrem Auftritt für eine Privatshow gebucht und wünscht sich die blonde Di für einen heißen Strip im Blue-Room. Di ist die liebevolle Abkürzung, die ihr Lee gab, als er sie zum ersten Mal für eine intime Aufführung buchte. Lady Diamond kann beliebige Rollen annehmen, sie hat viele Perücken, die sie in die Persönlichkeit verwandeln, die sich der Zuschauer wünscht. Sie hat ihre Garderobe gewechselt, den blonden Pagen übergezogen, zieht eine Line Koks, schaut in das Spiegelbild eines fast engelhaften Gesichtes und macht sich auf den Weg zum Blue-Room. Sie wirkt zart und unschuldig, nur die Stärke ihres Körpers provoziert Reife, wenn sie sich bewegt dann wie eine Schlange auf schmelzendem Asphalt. Die Tür schließt leise, Securitys stehen Spalier. Nachdem Di all seine Gelüste der sexy Nymphe erfüllt und Lee in seinen Händen abgespritzt hat, verlässt sie den blauen Raum.

 

Auf ihren durchsichtigen Plateauschuhen schlendert Lady Diamond Richtung Garderobe, um ihr Outfit zu wechseln. Es ist ein endloser Abend und manchmal fragt sie sich, wie lange sie hier noch arbeiten wird. Sie ist in der Blüte ihres Lebens. Sie ist 23, noch viele Jahre könnte sie so weitermachen, massig Geld verdienen, ihre Mutter glücklich machen, aber irgendwann ist sie dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen und zu oft sehnt sie sich nach etwas Beständigkeit. Lady Diamond träumt von einem einfachen Job, einen Freund an ihrer Seite, eine schöne Wohnung. Kleine Träume, die in diesem Moment unrealistisch groß erscheinen, während sie erneut die Bühne betritt und in gierige Männeraugen blickt, die sich vor allem auf die sinnlichen Reize konzentrieren, ihren Körper, der ihr schon immer viel gegeben und so viel genommen hat.

Im Rampenlicht fühlt sie sich dennoch aufgehoben, sie entdeckt einen Mann im Publikum, der irgendwie aus der Reihe fällt. Er schaut sie ganz genau an, er verfolgt jede Bewegung mit einer Intensität, die sie fast ein wenig aus dem Takt bringt. Es ist, als würden zwei Menschen dieselben Gedanken teilen. Sie blicken sich tief in die Augen, eine verständnisvolle Aura umgibt ihn, sie fühlt sich zu ihm hingezogen. Lady Diamond tanzt lasziv um die Pole Dance Stange, sie spreizt ihre Beine im Spagat, sie verliert jegliches Gefühl für Zeit und Raum, sie tanzt zu den brutalen Rhythmen von »This Mess We’re In« und wirkt dabei wie eine aphrodisierende Droge, die jeder nehmen will, berauscht von all den Emotionen, reißt sie ihr Höschen vom Leib und präsentiert ihre wunderbare Weiblichkeit. Sie verlässt nackt die Bühne mit tosendem Applaus. Sie dreht sich um und lächelt zu dem Mann aus dem Publikum.

 

Während Lady Diamond in ihrer Garderobe sitzt und sich erneut umzieht, bekommt sie durch die Lautsprecheranlage die Aufforderung im Yellow-Room einen Gast zu besuchen. Schnell schiebt sie sich eine lange, schwarze Perücke zurecht und wischt sich die Koksreste von der Nase. In diesem speziellen Raum sitzen sich Gast und Stripperin gegenüber, nur eine Glasscheibe trennt sie voneinander und Telefonhörer dienen der Kommunikation. »Hi Fremder, was möchtest du sehen?«, haucht sie dem Unbekannten entgegen. »Ich würde gern mit dir reden.«, antwortet eine tiefe Stimme, die Stimme gehört zu dem Mann aus dem Publikum. »Keiner will hier reden, also sag mir, was ich machen soll und ich tu es.«, antwortet Lady Diamond neckisch. »Ich würde gern mehr über dich erfahren, nimm doch bitte die Perücke ab, ich möchte sehen, wer du wirklich bist.« Lady Diamond lacht kurz, dann senkt sie ihren Kopf, ihre Stimme verblasst zu einem unsicheren Ton. Irgendwie fühlt sie sich zu ihm hingezogen, genauso wie sie es in dem Moment auf der Bühne wahrgenommen hat, das kann man nicht erklären. Noch nie hat sie jemand gefragt, wie es ihr geht, geschweige denn, wer sie ist, woher sie kommt, was sie macht, was sie beschäftigt, was sie sich wünscht. Die Gespräche der beiden vertiefen sich schnell, eine innige Beziehung entwickelt sich. Es ist, als würden sie sich schon ewig kennen und trotzdem neugierig den Reaktionen lauschen. Sie reden über Gott und die Welt, lachen, flirten, verstehen einander auch ohne Worte. Er berührt die Scheibe, er manifestiert ihren Namen: »Alice.« Er würde wiederkommen, so viel ist sicher.