Verpasste Gelegenheiten
Die Steintreppen am Fluss der Uferpromenade von Ribeira dos Naus scheinen kein Ende zu nehmen. Louis schlendert Stufe für Stufe Richtung Strand, er genießt seinen letzten Tag in Lissabon. Morgen würde er zurückkehren nach Paris. Wehmütig blickt er auf die Weiten des Meeres, während er dem Strand immer näherkommt und sich den heutigen Abend ausmalt, an dem er noch einmal richtig feiern wird. Vor vier Monaten kam er aus Paris, um seine gute Freundin zu besuchen. Mehr als zwei Jahre haben sie sich seitdem nicht mehr gesehen und insgeheim wünschte er sich eine Liebesbeziehung mit Severine. Die ersten Tage verrieten allerdings schnell, dass er von diesem Wunsch Abstand nehmen musste. Severine hatte sich bereits neu verliebt und so verblieben sie. Enttäuscht und alleingelassen wusste Louis nicht mehr, was er eigentlich noch in dieser Stadt zu suchen hatte. War dies doch sein einziger Grund nach Lissabon zu ziehen. Ein hoffnungsloser Romantiker steckte in ihm, ständig befand er sich in einer Art Zwischenstation aus Zuversicht und Niederlagen, aus Melancholie und optimistischer Getriebenheit. Er war hier, er hatte sich entschieden in Lissabon zu bleiben und er würde das Beste daraus machen. Trotz trübsinniger Gedanken, die ihn des Öfteren übermannten, zwang er sich rauszugehen, sich unter das Volk zu mischen. Und auf einmal eröffneten sich viele ungeahnte Möglichkeiten. Schnell knüpfte Louis neue Kontakte, die Menschen hier waren irgendwie anders als in Paris. Noch nie fiel es ihm so leicht mit Leuten zu kommunizieren. Frauen flirteten hemmungslos mit ihm und sein Selbstbewusstsein wuchs.
Louis ist Anfang 30, sehr attraktiv, ein Träumer, ein Kind, das in ihm ruht, ein Mann, der seine Umgebung genaustens wahrnimmt und die Gefühle Anderer reflektiert. Ein perfekter Fang würde man meinen, wenn ihn die eigene Unsicherheit nicht immer wieder einholen würde und so das empfindliche Entstehen einer Beziehung zweier Menschen erschwert. Manchmal, wenn er nachts aufwacht und zu grübeln beginnt, denkt er, vielleicht ist das Einzige, was ihm im Weg steht, seine Zerbrechlichkeit, seine Sensibilität, die es ihm fast unmöglich macht sich komplett zu öffnen. Louis wollte sich nie verschließen, er begegnet der Liebe immer positiv, doch vergangene Enttäuschungen haben auch bei ihm Spuren hinterlassen, kleine Kratzer, die ihm stets vergegenwärtigen auf sich aufzupassen und lieber einen Gang zurückzulegen, als verletzt zu werden. Wenn er sich verlieben sollte, würde er dieses Mal ganz genau hinschauen, bevor er seine Tür leichtsinnig öffnet und seinen Verstand dabei ausschaltet. Die Frauen, die er in Lissabon kennengelernt hat, gaben ihm eine besondere Wertschätzung, die kleinen Flirtereien veränderten sein Bewusstsein als Mann. Auf einmal wurde er begehrt und Louis beschloss sich diesmal nicht festzulegen, sondern seine Tür einen Spalt weiter zu öffnen für all die verführerischen Optionen, die ihm förmlich zu Füßen lagen.
Morgen wird er Lissabon schon wieder verlassen. Am Strand angekommen reflektiert Louis die letzten Monate und erinnert sich:
Da war diese eine spezielle Party, auf der er die Finnin Elin kennenlernte, die mit ihrer Freundin fast als Zwillinge hätten durchgehen können. Sie standen zusammen, tranken Wein, kicherten, flirteten. Immer wieder kam in ihm das Bedürfnis auf, Elin zu küssen, sie mitzunehmen, aber er traute sich nicht.
Sein Blick wanderte über Elin’s Schulter, als er sich in den Augen einer umwerfend schönen Italienerin wiederfand. Ihre Blicke trafen sich und eine sexuelle Spannung war spürbar, eine sexuelle Spannung, die den ganzen Raum füllte, aber nur für die beiden sichtbar war. Da war er wieder, dieser Slow Motion Effekt, der ihn warnte, dass diese Begegnung wehtun könnte. Die Musik hörte auf, die Bewegungen der Anderen verliefen zu langsam, um sie überhaupt noch wahrzunehmen. In seinen Gedanken geht er auf die Frau zu. Sie flüstert ihren Namen in sein Ohr, »Rosa«. Allein wie sie diesen Namen ausspricht, ihre sinnliche Stimme versetzt Louis eine Gänsehaut. In seinen Gedanken streichelt er ihr Gesicht. Sie laufen Hand in Hand zügig die engen Gassen Lissabon’s entlang. In Wirklichkeit stand er noch immer wie versteinert zwischen Elin und ihrer Freundin. Rosa war nicht mehr da.
Es war auch dieser Abend, an dem seine Freundin Ivie hinzukam. Ivie lernte er beim Skaten kennen, seitdem haben sie sich öfters verabredet, einer sexuellen Anziehung konnten sie sich nie wirklich entziehen, aber beließen es bei heimlichen Gelüsten.
Ivie ist extrovertiert, sie tanzt gern und liebt es im Mittelpunkt zu stehen. Sie hat ein Kind und ist älter als Louis. Wenn er sie beobachtet, stellt er sich ein gemeinsames Leben vor. Wie sie zusammen den Alltag meistern, er sich ihrem Kind anvertraut und sie zu dritt eine schöne Zeit genießen.
Louis stand neben der Tanzfläche mit seinem Glas Wein in der Hand und beobachtete die tanzende Ivie, die ihre Augen nicht von ihm lassen konnte und immer wieder lächelnd zu ihm schaute, ihn aufforderte mit ihr zu tanzen. Er lächelte zurück. In seinen Gedanken tanzt er mit Ivie, sie küssen sich innig und verlassen die Party. In Wirklichkeit wendete er sich ab, er verabschiedete sich von Elin und ihrer Freundin mit einer herzlichen Umarmung und verließ allein die Bar.
Es wird dunkel an der Strandpromenade und Louis freut sich auf die bevorstehende Nacht. In seinem Apartment macht sich Louis zurecht für die Feier im Viertel von Bairro Alto. Heute wird er sie alle wiedersehen. Das war etwas, was er schon jetzt vermisst. In Lissabon triffst du die Leute wieder, anders als in Paris, wo die Menschen anonym durch die Straßen streifen und sich nur zufällig begegnen. Heute Abend wusste er, dass er die Finnin Elin mit ihrer Freundin, Ivie und eventuell die umwerfende Italienerin, der er den Namen Rosa gab, sehen würde. Er steht vor dem Spiegel und zupft nervös an seinem Bart.
In der Bar angekommen herrscht bereits eine ausgelassene Stimmung. Und tatsächlich trifft er die Frauen dort wieder. Ivie unterhält eine Gruppe von Studenten, Elin und ihre Freundin tanzen ausgelassen und die Italienerin begrüßt ihn direkt beim Betreten des Eingangs mit einem Glas Wein in der Hand. Ihr richtiger Name ist Maria und es besteht kein Zweifel, dass sie Louis erobern möchte. Die Frauen bescheren Louis eine wunderbare Zeit. Er tanzt, er flirtet ausgelassen, im Scheinwerferlicht tauscht er feuchte Küsse mit der Finnin Elin und ihrer Freundin. Er streichelt zärtlich über Marias nackten Rücken, als er sich ein zweites Glas Wein an der Bar holt und sieht, wie sich eine Gänsehaut zwischen ihren Schulterblättern bildet. Alle wollen mit Louis die letzte Nacht verbringen, doch nur mit einer verschwindet er tatsächlich. Es ist seine Freundin Ivie.
Die romantischen Gedanken von einem Abschied auf unbestimmte Zeit und das alle die Pläne von einer gemeinsamen Zukunft, die auch in Ivie’s Kopf herumschwirren, nicht gelebt werden können, versetzen beide in eine leidenschaftliche Euphorie. Sie lieben sich die ganze Nacht. Am nächsten Morgen sitzen sie gemeinsam mit Ivie’s Kind am Frühstückstisch. Louis verabschiedet sich von ihr und packt seine Koffer. Zufriedenheit überkommt ihm am Flughafen von Lissabon. Er würde wieder zurückkehren in diese Stadt, in eine Stadt, die ihm so viel mehr gegeben hat, als nur verpasste Gelegenheiten.