Alles schon erlebt

 

Äußerst elegant begann meine Verabredung mit Fabian, der mir im feinen Nadelstreifen Anzug da so gegenüber saß. Wir verabredeten uns in Mitte, in einer kleinen Bar an der Spree. Es war so ein typischer Berliner Sommerabend, an dem man gern draußen sitzt mit einem Radler in der Hand und es scheint, als würde die Sonne nie untergehen. Als ich mit Fabian zuvor schrieb, wusste ich, dass er sich in Schale schmeißen würde für dieses Date und dafür habe ich mir auch ein bisschen mehr Zeit genommen. Ich wählte ein rotes Kleid mit kleinem Kragen und halblangen Ärmeln, kurz und luftig, das Material aus feinem Samt schmeichelte meiner Haut. Wenn ich dieses Kleid trug, sorgte ich für Aufmerksamkeit, es gefiel den Männern und ich war mir nicht immer sicher, ob ich in der Laune war es wirklich zu tragen und mich so den Blicken gefolgt von stumpfen Sprüchen auszuliefern. An diesem Abend habe ich mich getraut.

Fabian kam aus Österreich, ich mochte seinen Akzent und sein Äußeres allgemein. Er war so ein eloquenter, charmanter Mann, der es allerdings faustdick hinter den Ohren hatte, wie ich später erfahren sollte.

 

Wir redeten über alles Mögliche, ziemlich schnell sind wir mit unseren Gesprächen in die Tiefe gegangen. Er war verheiratet, hatte Kinder und einen Job, der ihm keine Luft zum Atmen ließ. Viel interessanter fand ich allerdings, was er in sexueller Hinsicht schon alles ausprobiert hat, um zu diversen Höhepunkten zu gelangen. Fabian war ein Kopfmensch, er hatte Schwierigkeiten abzuschalten, loszulassen und zu genießen. Er war einer dieser Männer, die sehr kontrolliert durchs Leben gehen, ausgelöst durch verschiedene Stressfaktoren und der Aufgabe tagtäglich seinen Mann zu stehen. Verantwortung für die Familie und dem Glauben, dass alles gut werden würde, trieben ihn zu grenzwertigen Höchstleistungen an. Eine zarte Seele in einer starken Hülle dachte ich. Seine Offenheit und Unverblümtheit mir diese Dinge zu erzählen fand ich mehr als bewundernswert. Fabian hatte keine Skrupel ins Detail zu gehen. Er besprach mit mir all seine Ängste und tiefsten Wünsche. 

Wünsche! Wir alle haben Sehnsüchte, Fantasien und versuchen unsere Körper auf verschiedenste Art und Weise zu erkunden, um herauszufinden, wer man eigentlich ist, was man mag und was dieser Körper so alles kann.

Fabian hatte schon alles probiert, um auf seine Kosten zu kommen. Er war in Swingerclubs, er hatte Gruppensex mit Männern und Frauen, er probierte sowohl die schnelle Nummer mit einer Prostituierten als auch das Zeitnehmen mit einer Escortdame. Spielzeuge, Substanzen, die Folter von einer Dominatrix, Gangbang, Blut, Urin, Schweiß, viele Tränen….  »Alles schon erlebt«!

Ich war ziemlich überrascht, als mir Fabian diese Vielfalt an Erfahrungen schilderte, weniger überraschte es mich, dass keine dieser Erfahrungen zu wirklicher Befriedigung führte. Er war zu kontrolliert, seine Gedanken waren zu laut. Er konnte sich einfach nicht gehenlassen, das bekam ich später an dem Abend genau so zu spüren.

Ich fragte mich innerlich, wie es sich anfühlt, wenn man all die Schmerzen, die er in seinem Leben schon erfahren hat nicht mehr spüren kann. Und ich wusste, es gab viel, was in seiner Vergangenheit nicht verarbeitet wurde.

Nach ein paar Drinks und einigen Zigaretten waren wir dann so weit. Wir entschieden weiterzugehen. Fabian rief ein Taxi und ich war mir sicher, wir würden in einem edlen Hotel unterkommen, das er zuvor schon heimlich arrangiert hatte. Ich sollte falsch liegen. Fabian hatte noch gar nix organisiert, und als ich ihn im Taxi fragte, welches Hotel wir nehmen würden, sagte er eiskalt: „Ich dachte an so ein Stundenhotel Richtung Zoo.”

Ich war sprachlos und hatte ein wenig Skrupel, um ehrlich zu sein. Was würden wir beide bitte in einem Stundenhotel machen? Zwei äußerst elegant gekleidete Leute sollen nun in einem schäbigen Stundenhotel zum lustvollen Höhepunkt kommen? Irgendwie fand ich das alles sehr merkwürdig, aber irgendwie reizte mich dieser Gedanke auch. Ich war noch nie in einem Stundenhotel. Schon als wir den Eingang betraten, wusste ich, wir sind hier definitiv im falschen Kiez.

Fragwürdige Gestalten liefen über die Flure. Ich erinnere mich an eine Frau im Minirock, mit zu viel Make-up, dem typisch verbrauchten Gesichtsausdruck einer Vollzeithure. Der Mann, der sie begleitete, war ungefähr mittleren Alters, eher schmächtig und unscheinbar. Er schob sie in einen dieser Räume, in dem es also zur Sache gehen sollte. Für diese Nummer würde er wahrscheinlich höchstens einen 50er hinlegen, dachte ich. Die Empfangsdame roch den Braten! Sie wusste, hier gab es viel Geld zu holen. Sie sah uns und gab uns den besten Service, den sie zu bieten hatte. Ich fand das alles sehr amüsant und ließ mich auf die Rolle ein. Fabian hingegen war völlig abgebrüht, wahrscheinlich nicht das erste Mal, dass er so ein Stundenhotel wählte.

Die Wände des »Seitensprungzimmers« waren rot bemalt. Es gab einen Tisch, auf diesem Tisch standen Kleenex, ein Desinfektionsspray und eine Glasschale gefüllt mit Kondomen. Ansonsten gab es nur ein Bett, ohne Bettwäsche umzingelt von Spiegeln in verruchter Atmosphäre. Wir nahmen einen Wein mit aufs Zimmer und rauchten als Erstes eine Zigarette auf dem Bett. Ich fühlte mich wie in diesem George Michael Song »Roxanne«. Die traurige Figur einer Prostituierten, die Tag ein und Tag aus Freier befriedigt und nie der wahren Liebe begegnet. Ich mochte diese Rolle, weil mein Leben ganz anders aussieht. Die Spiegel taten ihr Übriges. Ich wollte Fabian etwas Gutes tun mit dem Bewusstsein, dass dies eine Herausforderung werden sollte. Ich strippte für ihn im Rotlicht, langsam und anmutig, so habe ich es zumindest empfunden. Er lag völlig bekleidet auf dem Bett und genoss die Show mit einem Glas Wein in der Hand.

Als wir intimer wurden, merkte ich, dass Fabian dichtmachte. Er versuchte sich zu konzentrieren, auf die Berührungen, auf die Worte, auf den natürlichen Rhythmus zweier Körper, die einfach passten. Er erzählte mir von einer vergangenen Begegnung, als die Frau einen »Strap-On« trug und ihn damit befriedigte. Er zögerte nicht lange und packte so einen Umschnalldildo aus seinem Rucksack. Ich vermutete darin Unterlagen, Laptop und Ladekabel, aber es war eine echte Überraschungstüte mit allen Utensilien, die man für ein Liebesspiel gebrauchen könnte. Das war neu für mich und ich muss sagen, dass mich die Vorstellung davon nicht wirklich anmachte.

Ich sollte mich wie ein Mann fühlen in diesem Moment, mit seinen Beinen um meine Schulter geschlungen. Eine zarte Frau und ein großer, starker Mann tauschten die Rollen. Ich blickte ab und an in die Spiegel und dachte was für ein seltsames Gefühl, was für ein verzerrtes Bild.

Die Rolle verwandelte sich und ich gab mein bestes um Fabian zu befriedigen.

Ich dachte an die Leichtigkeit, die ich besitze, meine Naivität, die romantischen Gedanken bei allem was ich tue, und war glücklich für einen Augenblick. Ich dachte an die -im Vergleich- eher unschuldigen Erlebnisse meiner Vergangenheit und stöhnte vor Zufriedenheit. »Was, wenn du alles schon einmal erlebt hast? Was, wenn du nie wieder etwas verspüren solltest?« Es war ein existenzielles Hochgefühl, das mich berauschte und schließlich zum Höhepunkt brachte. Fabian blieb dies den ganzen Abend lang verwehrt.  

Das Leben stimmte mich nach diesem Aufeinandertreffen sehr melancholisch. Es gab sie, die Menschen, die in ihrer Seele zerbrechlich sind, die so viel spüren und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Nach dieser Nacht habe ich Fabian nie wieder gesehen.