Das erste Mal

 

 

Zeit und das, was bleibt: Mit 50 versucht Sam zu begreifen, wo all seine kostbaren Minuten geblieben sind. Er hat sie aufgeschrieben, nur anhand seiner Bücher, die mittlerweile viel Anerkennung erreicht haben, wird Sam bewusst, dass er die Hälfte seiner Lebenszeit längst überschritten hat. Wenn er jetzt reist, um seine Werke vorzustellen, denkt er ständig, vielleicht ist dieses Mal mein letztes Mal in Paris, vielleicht ist dies das letzte Mal, dass ich mein Lieblingscafé betrete. Mary, die junge Agentin von Sam begleitet ihn oft zu internationalen Buchpräsentationen, ihre Beziehung hat sich über die Jahre als Freundschaft mit gewissen Vorzügen entwickelt. Mary versteht ihn und verehrt ihn gleichzeitig.

Sie probierte sich lange Zeit selbst als Autorin, aber ihre Bücher erlangten nur wenig Aufmerksamkeit. Sam ist ihr Lehrer, er bringt ihr das Schreiben bei, er korrigiert ihre Texte, um sie besser zu gestalten. Manchmal lagen sie während Lesungsreisen gemeinsam in Hotelbetten mit Büchern aus der hauseigenen Bibliothek. Dann lasen sie sich gegenseitig vor und streichelten ihre nackten Körper.

Sam fühlt sich stark zu jüngeren Frauen hingezogen, er begehrt ihre Unbeschwertheit, die einer unversehrten Jugendlichkeit. Mary ist 28, all seine Exfrauen waren nicht älter als 35. Er selbst wirkt äußerst jung, in seinem Verhalten, seiner Kleidung, seinem ganzen Erscheinungsbild, zu verdanken seiner Mutters guter Gene. Einzig durch sein Wissen und das, was die Leute aus seinen Büchern vernehmen, kann man sein Alter erschließen.

In einer Woche geht es auf eine kleine Europareise. Ziele sind: Paris, Barcelona, Berlin und München. Auf all diesen Reisen wird Mary ihn begleiten und ihm in den Abendstunden erotische Gesellschaft leisten. Er freut sich auf diese Tour, wieder blickt er melancholisch Richtung Zukunft, vielleicht ist dies das letzte Mal, denkt er sich.

 

In München würde Mary ihre Tante wieder treffen, sie hat sie schon so lange nicht mehr gesehen. Die Distanz von Mexiko nach Deutschland erschwert regelmäßige Treffen. Für zwei Nächte bleiben Mary und Sam in München und Sam hoffte, diese mit Mary teilen zu können. Ihre Tante hat allerdings andere Pläne und will Mary bei sich einquartieren. Allein an der Hotelbar genehmigt sich der frustrierte Sam ein paar Gläser Cognac und verfällt erneut in seine schwere Gedankenwelt. Heute und auch die nächste Nacht wird er allein verbringen, manchmal fürchtete er sich vor seinen Träumen, er wollte nicht mehr allein einschlafen.

In diesem Moment taucht eine Frau auf, sie hat Sam an der Bar beobachtet und geht auf ihn zu. »Haben sie dieses Buch geschrieben? Das sind doch sie?«, fragt sie ihn. In der Hand hält sie eines seiner ersten Ausgaben, dieses Buch ist das Einzige, was ihm wirklich gefallen hat. Er erkennt seine Leichtigkeit in den Worten, zu Beginn seiner Karriere waren die Gedanken noch unbefangen. Er schaut die junge Frau an seiner Seite musternd an. Sie beweist guten Geschmack, denkt er sich und außerdem sieht sie auch noch umwerfend aus. Groß, schlank, dunkle Haare, blaue Augen, ein enges, schwarzes Etuikleid, High Heels, vielleicht Anfang 30. Sie erinnert ihn an die Eleganz der Frauen aus alten Film Noir Szenen, die Frauen bewegten sich anders, sie wussten mit wenigen Worten dem Raum eine gewisse Bedeutung zu geben. Gemeinsam mit ihr genehmigt er sich einen nächsten Cognac und so beginnt ihre Kommunikation: Eleonore ist gebürtig aus Mexiko, lebt aber seit ein paar Jahren in München. Die Werke von Sam haben sie von Kindheitstagen an begleitet.

 

Die Gespräche vertiefen sich schnell und Eleonore erzählt ihm von ihrem zweiten Zuverdienst. Sie weiß, das Leben zu genießen, sie weiß, was sie will. Sie weiß, dass sie mit dieser Aussage, die Männer schockt und zugleich in eine sehnsuchtsvolle Fantasie hüllt. Mit den einfachen Worten: »Ich treffe Männer für Sex und werde dafür bezahlt.«, erschüttert sie den Zuhörer auf positive Art. Sie hat diese Worte schon oft gewählt, getestet und als passend empfunden. Auch Sam ist etwas überrascht, nachdem sie diesen Satz so kühn auswirft und einen tiefen Zug ihrer Zigarette inhaliert, bleibt sie dennoch ruhig, seltsam souverän. Kaum eine Veränderung ist spürbar. Wie viele Männer sie schon auf diese Weise um den Verstand gebracht hat, fragt sich Sam.

Sam hat noch nie eine Frau für Sex bezahlt, er war sich seiner Attraktivität bewusst, er hat den Charme eines introvertierten, sehr gefühlvollen Autor.

Frauen liebten ihn für seine Aufmerksamkeit, wenn er ihre Körper berührte, war es, als würde er etwas Kostbares huldigen. Jede war eine Liebesbeziehung für sich und keine hätte weniger verdient, als alles was er zu geben hat. Er zelebrierte Sex über Stunden, nicht allein der Akt war seine Erfüllung, sondern das miteinander verschmelzen, körperlich und seelisch.

Er hatte noch nie oberflächlichen Sex gehabt, so etwas kam in seinem Wortschatz überhaupt nicht vor und genau deshalb war auch die Vorstellung mit einer Prostituierten Sex zu haben, keine Option, nicht für ihn. Aber Eleonore hat etwas, dem er sich nicht entziehen kann: tiefsinnig, gebildet, extrem attraktiv und er will die Nacht nicht allein verbringen. Er würde sie dafür bezahlen, weil sie es nicht anders kennt und diese Gewöhnlichkeit schenkt ihm ein großartiges Gefühl von Verständnis. Dies kann kein Zufall sein, dies ist vorherbestimmt. Eleonore und Sam verlassen die Hotelbar. Während sie über die langen Flure flanieren, überkommt Sam ein merkwürdiger Gedanke: Mit 50 würde er so etwas zum ersten Mal erleben, es war das erste Mal, vielleicht das Letzte, aber es gab noch dieses Erste. Lächelnd führt er Eleonore in sein Apartment.

 

Am nächsten Morgen sitzt er zusammen mit Mary beim Frühstück. Sie bereiten sich auf die Buchpräsentation vor, die in wenigen Stunden im Hotel Foyer stattfinden wird. Sam sagt nicht viel, aber Mary erkennt einen glücklichen, leicht veränderten Sam. Als sie ihn fragt was er gestern gemacht hat, schildert er seinen Abend bis ins kleinste Detail. Wehmütig blickt Mary nach unten, zu gerne wäre sie dabei gewesen.