Ein neuer Tag

 

 

 

Der Umgang mit Nacktheit stellt für Svenja ein großes Problem dar. Wenn sie mit Männern schläft, schafft sie es irgendwie immer, sich aus ihrer Kleidung zu pellen und dabei ganz unauffällig unter die Decke zu schlüpfen. Sex verbindet sie mit Leistung. Es geht darum, Männer zu befriedigen, es ist Sport, sie selbst hat noch nie einen Orgasmus erlebt. Sie fragt sich oft, ob das alles ist, was es zu erwarten gibt, ob all die erotischen Fantasien nur in ihrem Kopf stattfinden und sich mit der Realität einfach nicht decken. Mittlerweile ist sie 25 Jahre und hat schon mit einigen Männern geschlafen, die Sehnsucht nach Vollkommenheit, einem Partner, der sich ihrer annimmt, hat sich bisher noch nicht erfüllt. Ihre Herausforderung ist, sich selbst nackt zu akzeptieren so, wie sie ist, sich gehen zu lassen, wenn es drauf ankommt. In den intimsten Momenten überlegt sie, ob sie gut positioniert ist, ob sie nicht zu laut stöhnt oder ob der Partner gerade ihre kleinen Makel entdeckt. Sie kann ihren Kopf nicht ausschalten und verliert sich in trübsinnigen Gedanken. Nach dem Geschlechtsverkehr wartet sie meistens, bis der Mann eingeschlafen ist. Dann befreit sie sich langsam aus seinen Armen und zieht sich Shirt und Hose an. Manchmal geht sie zurück ins Bett, manchmal verlässt sie stillschweigend die Wohnung.

Svenja hat sich vorgenommen mit so vielen Männern wie möglich zu schlafen, um irgendwann den einen zu finden, der sie versteht. Sie versucht sich zu erinnern, wie es dazu gekommen ist, dass sie so ein falsches Körperempfinden in ihr trägt. Ihre Familie ist sehr religiös, schon früh hat sie gelernt, dass Sex eine Sünde ist und einzig der Fortpflanzung dient. Während andere Kinder ihre ersten Masturbationserfahrungen gesammelt haben, saß sie in der Kirsche und lauschte den Predigten des Pfarrers. Die Freizeitgestaltung mit gleichaltrigen Mitschülern wurde ihr verboten, sie ging zur Schule und danach direkt nach Hause, um im Haushalt auszuhelfen. Ihre Eltern versuchten sie vor jeglichen Entgleisungen fernzuhalten, sie hatte keinen Zugang zur Welt da draußen.

 

Gelegentlich, wenn sie in der Badewanne liegt, versucht sie mit einem Handspiegel ihre Vulva zu betrachten, nur ganz kurz erhascht sie einen Blick auf die lamellenartigen Wülste zwischen ihren Schenkeln und lässt jedes Mal entsetzt den Spiegel im Badewasser versinken. Sie wusste, dass es falsch war, sie wusste, dass es wichtig gewesen wäre, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Andere Frauen in ihrem Alter waren schon so viel weiter, sie konnte nicht mitreden. So vieles blieb ihr verwehrt, nur deshalb steht sie heute genau da, wo sie jetzt ist: Eine unsichere Frau, die schon fast nymphomanisch danach sucht, endlich akzeptiert zu werden.

Keiner weiß von ihrem stillen Geheimnis, das sie sich Tag für Tag mit Männern verabredet, nur um Zugang zu ihrem eigenen Selbstvertrauen zu bekommen. Auf einer Dating-App, die genau dafür gemacht ist, stöbert sie nach passenden Verabredungen. Eine diskrete Art, um mehr Erfahrungen zu sammeln, findet Svenja. Selbst wenn sie sich dabei nie nackt vor den Männern präsentiert, niemandem ist das bisher aufgefallen.

 

Heute trifft sie sich mit Leon. Leon öffnet die Tür zu seinem Apartment und schnell überkommt Svenja das Gefühl, dass dies ein besonderer Abend werden könnte. Leon nimmt ihr die Jacke ab und führt sie in den offenen Wohnraum. Sein Apartment ist geschmückt von vielen Nacktporträts, die er selbst geschossen hat. Svenja ist etwas beschämt bei dem Anblick der Frauenkörper, aber gleichzeitig beeindruckt von seiner Wohnung. Alles wirkt so glamourös und Leon ist sehr aufmerksam. Er hört zu und genießt ihre Gesellschaft. Svenja ist ein wenig verunsichert, da es meistens direkt zur Sache geht. Leon ist anders, er interessiert sich für sie und stellt viele Fragen. Sie öffnet sich ihm, irgendwie fühlt sie sich aufgehoben und es fällt ihr leicht Dinge mit ihm zu besprechen, die sie normalerweise nur mit sich selbst ausmacht. Sie erzählt von ihrem gestörten Selbstbild, den unbefriedigenden Sexabenteuern und dem Verlangen endlich etwas zu spüren. Leon kann es kaum glauben. Er findet Svenja sehr attraktiv, nicht nur äußerlich, die Art, wie sie kommuniziert, wie sie sich bewegt, schon komisch denkt er sich, wieso hat zuvor kein Mann mehr von ihr gewollt, außer Sex.

Leon macht Svenja einen Vorschlag. Er möchte ihr zeigen, wie schön sie ist. Er würde sie gern nackt ablichten. Svenja lehnt sofort ab. Das wäre gegen ihre Natur, sie kann sich nicht vor ihm entblößen und schon gar nicht auf Bildern verewigen lassen. Allerdings fühlt sie sich mit Leon auch sehr wohl und grübelt in Anbetracht seiner wundervollen Kunstwerke. Vielleicht würde sich etwas ändern, denkt sie sich, vielleicht ist das der Moment, nachdem sie so lang Ausschau gehalten hat. Leon und Svenja haben viel Spaß, sie lachen, sie berühren, sie verstehen sich, eine vertraute Basis. Nach ein paar Drinks ist Svenja bereit sich vor ihm und seiner Kamera auszuziehen. Nie hätte sie gedacht, dass sie diesen Schritt wagen würde. Sie geht ins Badezimmer und zieht sich aus, sie mustert ihr Spiegelbild und wieder überkommt sie Angst und Unsicherheit, beim Anblick ihres unverhüllten Körpers. Ohne weiter darüber nachzudenken, wirft sie sich einen Bademantel über und stellt sich vor die graue Wand der Hohlkehle.

 

Die Studiolichter blenden, Svenja erkennt nur schemenhaft den stolzen Leon, der sich der Besonderheit dieser Situation bewusst wird. Klassische Musik hallt durch die Räume. Langsam lässt Svenja den Bademantel auf den Boden fallen. Sie hat sich noch nie wohler gefühlt. Leon ist überwältigt von ihrer Schönheit. Kurz scheint es, als würden sie in Gedanken kommunizieren. Er schießt erst ein paar Porträts und tastet sich nach und nach weiter nach unten, um jeden Teil ihres Körpers festzuhalten. Svenja ist groß, hat wundervoll geformte Brüste, ein breites Becken, eine sehr schmale Taille und endlos lange Beine. Ihre blauen Augen strahlen so viel Zuversicht aus. Ihre blonden Haare schimmern fast wie Goldpapier im Scheinwerferlicht.

In Svenja’s Kopf spielen sich zahlreiche Szenarien ab, sie blüht auf. Alles scheint anders zu sein an diesem Tag, mit dieser Begegnung, die eine neue Liebe in ihr weckt, die Liebe zu sich selbst.