Sommermelodien

 

 

»Mit dem Begriff Elektronegativität sollten sie etwas anfangen können. Was bedeutet das also Herr Krüger?« Im Vorlesungsraum geht ein Raunen durch die Menge, als die Blicke um Lars kreisen, der scheinbar nicht wirklich anwesend ist. »Hallo Herr Krüger?«, »Sind sie noch da oder was geht in ihrem Kopf gerade ab?«, wachgerüttelt von seinem Namen kommt Lars im Raum an. »Wie war die Frage noch mal?«, entgegnet er zögerlich. »Einfach mal zuhören sag ich nur, warum sitzen sie sonst hier? So weiter geht’s.« Die Blicke der Studenten wandern wieder an die Tafel, während der Professor Bestandteile der organischen Chemie erklärt. Lars senkt seinen Kopf und versucht seine Gedanken abzuschalten.

Zielstrebig und stets geradeaus, das ist der Plan. Mit 23 hat Lars seine Zukunft komplett durchdacht und würde, wie es seine Eltern von ihm erwarten, alles richtig machen. Nach dem nächsten Semester will er ins Ausland, forschen, promovieren, etwas erreichen. Für Freundschaften und Liebe hat er keine Zeit. Er ist zu fokussiert, die anderen Studenten in seinem Alter haben grundverschiedene Hobbys. Manchmal fühlt er sich allein, etwas zu introvertiert, dennoch kann er mit Gleichgesinnten und dem ständigen Gefeiere nicht viel anfangen, das wurde ihm schon sehr früh bewusst.

Als er ungefähr 10 Jahre alt war, saß er gelegentlich bei seiner Nachbarin auf der Terrasse. Seine Eltern waren oft unterwegs und er schätzte die Aufmerksamkeit von Frau Liebing. Er erinnert sich daran, wie sie im Sommerkleid auf dem Liegestuhl saß und ihm Geschichten von »Werner Neumann« vorlas. Manchmal erhaschte eine Windböe ihr Kleid und schob es sanft nach oben. Dann wünschte er sich etwas näher zu kommen, um ihre Schenkel zu beobachten, wie sich die kleinen Haare aufstellen, ihre Finger zu berühren, mit denen sie langsam das Kleid wieder nach unten zog. Er konnte all diese verborgenen Details genau erfassen, sie für immer in seinem Gedächtnis abspeichern.

 

Er mochte Frau Liebing’s mütterliche Art, trotzdem waren sie irgendwie auf Augenhöhe. Er kannte dieses Gefühl von liebevoller Umsorgung nicht, meistens gab es dafür Bedienstete. In seinem Tagebuch schrieb er über Frau Liebing. In seinen Worten erkannte man eine spezielle Verbundenheit, sie war seine Freundin, die ihm ständig vorliest, während er auf ihrem Schoß einschläft, dabei streichelt sie ganz behutsam seine blonden Haare. Jetzt erinnert er sich wieder genau an diese jungfräulichen Momente, die ihn zu dem machten, was er heute ist, schüchtern, tiefsinnig, einzigartig, ein hagerer Mann mit nur einem Ziel vor Augen: Erfolg!

Klassische Dates kamen für ihn nicht mehr infrage, immer waren da zu große Erwartungen, immer ging es um Liebe, die erfüllt werden wollte, außerdem fühlte er sich nach diesen Treffen komisch und klein. Die Gespräche versanken in Stille, Unwohlsein machte sich breit. Lars wollte seine Sexualität austesten, durch seine introvertierte Art kannte er das unbändige Gefühl tiefer Sehnsüchte, die geprägt waren von Unvollkommenheit. Unvollkommenheit, wie er sie zuvor nur in Filmen wahrgenommen hatte. Nach mehreren enttäuschenden Erfahrungen herkömmlicher Datingversuche wagte er einen neuen Anlauf mit Paid Dates. Seine Eltern unterstützen ihn sowieso bei allem und Geld spielte nie eine Rolle. Er würde sich seine Fantasien kaufen.

An diesem Sommertag im Juli verabredet er sich mit der 30 jährigen Madeleine. Madeleine war Stewardess und wusste die Männer zu verführen. Zuvor schickte sie ihn ein paar aufreizende Bilder, die seine Vorfreude steigerten. Er war unsicher, hatte er die richtige Auswahl getroffen mit dem Anzug seines Vaters, der ihm eigentlich ein Stück zu groß war, mit dem Parfum, war es vielleicht doch zu viel?

 

Als er die Tür des Restaurants »Le Faubourg« am Kurfürstendamm öffnet, sitzt Madeleine bereits da. Mit einem großen Lächeln begrüßt sie ihn und fällt ihm um die Arme. »You look great, Boy, and you smell fantastic.«, haucht sie ihm bei der Umarmung ins Ohr. Sie selbst sieht umwerfend aus, in diesem roten Trägerkleid, besser als die Bilder, die ihm noch im Kopf herumschwirren und da ist sie wieder diese vertraute Unsicherheit, die er nur schwer ablegen kann.

Sie setzen sich gegenüber und Lars übergibt Madeleine wie gewünscht den Briefumschlag mit 400€. Genau so, wie sie es besprochen hatten. Mit einem Augenzwinkern bedankt sie sich und nimmt seine Hand. Schüchtern blickt er in ihre dunklen Augen. »I have something for you too, Boy.« Madeleine rückt ein wenig näher und verschwindet mit ihren Händen unter dem Tisch. Lars schaut sich um, es sind nur wenige Gäste um diese Mittagszeit im Restaurant, aber der Kellner ist in Reichweite. Madeleine zieht ihren Slip unter dem roten Kleid hervor und präsentiert ihn direkt auf der Mitte des Tisches. Lars errötet und steckt ihn hastig in seine Hosentasche. »Are you excited, Boy?«, fragt sie ihn mit einem verschmitzten Lächeln. Lars nickt und wartet, was als Nächstes passiert. Er fühlt sich in dieser Umgebung sichtlich unwohl, aber irgendwie schafft es Madeleine ihn für sich zu gewinnen. Raum und Zeit geraten in Vergessenheit.

Der Kellner kommt und die zärtliche Stimmung zwischen den beiden, die hauptsächlich nur aus tiefen Blicken besteht, wird für einen kurzen Augenblick gestört. Madeleine übernimmt die Führung und bestellt für beide eine große Flasche Wasser, nicht mehr und nicht weniger. Als er verschwindet, setzt sie sich neben Lars. Erneut nimmt sie seine Hand und führt diese unter ihr Kleid. Die weiße Tischdecke verdeckt heimliche Sehnsüchte. »I want you to feel me.«, haucht sie in sein Ohr, während sie seine rechte Hand zwischen ihre warmen Schenkel presst. Lars ertastet ihre weichen Schamhaare, ihre saftigen Schamlippen.

 

Er erinnert sich an den Moment mit Frau Liebing auf der Terrasse, er schließt seine Augen. Der Geruch von Sommer, die Windböe, das Kleid, was sich leise nach oben schiebt, er ist genau da, wo er sein wollte.